Lange Psychotherapien haben nicht nur emanzipatorisches Potenzial, sondern stellen eine zielführende Möglichkeit zu seelischer Gesundheit dar. Es kann dauern bis Beziehung und Vertrauen entstehen und die Angst so weit sinkt, dass ein In-Sich-Hineinschauen möglich wird und Schwierigkeiten in die therapeutische Beziehung eingebracht und bearbeitet werden können. Gleichzeitig werden lange Therapien (mehr als 300 Stunden) zunehmend seltener von Sozialversicherungsträgern finanziell unterstützt. Passend zum Zeitgeist wird in Untersuchungen der Wirksamkeit von Psychotherapien das Verschwinden von Symptomen in den Vordergrund gestellt, andere Aspekte der seelischen Gesundheit werden (zu) wenig beachtet.
Eine Zeit der Schnelllebigkeit
Der Philosoph Geißler (2005) bezeichnet unser gegenwärtiges, individuelles und gesellschaftliches Verhältnis zur Zeit als postmodern. Das mechanistische Weltbild des regelmäßigen Takts wird von den Vorstellungen der Diskontinuität mit positiv bewerteter „Flexibilisierung“ und „Deregulierung“ abgelöst wird. Die Bindung an standardisierte, äußere Zeitgeber wird verringert. Das Prinzip des „immer und überall“ führt zu einer Ruhelosigkeit der Gesellschaft. Das Leben zwischen unterschiedlichen Zeitmustern erfordert permanentes Bemühen, diese unterschiedlichen Zeitanforderungen zu balancieren. Es gibt wenig allgemein Verbindliches, jede/r Einzelne muss sich selbst im Zeitlichen Halt verschaffen. Um in so einer Gesellschaft bestehen zu können, ist es notwendig, in der Kindheit zu lernen, das eigene Verhalten und Empfinden in Abhängigkeit von „der Uhr“, Terminen etc. zu steuern und, diesen allgegenwärtigen Fremdzwang in eine Art individuelles Zeitgewissen zu verwandeln. Da dieses Lernen und Verinnerlichen sehr früh in unserem Leben beginnt, ist es schwer, dem zu entkommen (Elias, 1988).
Auch leben wir in einem kapitalistischen Wirtschaftssystem, in dem – wie Fürstenau (2006) schreibt – es eine konstituierende Eigenheit ist, Güter und Dienstleistungen tendenziell unter dem Gesichtspunkt der Profitmaximierung zu betrachten. In den kapitalistischen Ländern gibt es grundsätzlich eine Tradition der Sicherstellung all dessen, was Personen zu einem menschenwürdigen Leben brauchen. Dazu zählen Erhaltung von Gesundheit und Bekämpfung heilbarer Krankheiten. Diese eigentliche therapeutische Absicht und Arbeit wird durch die Ausrichtung am ökonomischen Paradigma aber immer wieder gefaehrdet. Bruns spricht 2007 sogar von einem Aufgeben des Ideals der Humanität im Sinne der Erhaltung und Verbesserung menschlichen Lebens ohne Rücksicht auf Kostenerwägungen.
In diesem Zusammenhang fällt aktuell eine Ökonomisierung der institutionellen Rahmenbedingungen von Psychotherapie im Sinne von verstärkter Orientierung an Effektivität auf. Finanzielle Einschränkungen im Sinne einer von außen festgelegten bzw. begrenzten Therapiedauer lassen deren inhaltlichen Kern nicht unberührt. Das Funktionieren wird über die wirkliche seelische Gesundheit gestellt. Für unangenehme Wahrheiten und schmerzliche Erfahrungen bleibt wenig Raum. Die aktuelle Betonung der Symptomorientierung spielt einer Kritik, die immer wieder an Psychotherapie geübt wird, nämlich als „symptomatisch arbeitender Reparaturbetrieb (…), der gesellschaftliche Probleme psychologisch verschleiert“ (Keupp, 2005; zitiert nach Strauß u. Geyer, 2006, S. 11), in die Hände.
Zur Notwendigkeit, Zeit zu haben
Lehmkuhl und Lehmkuhl (2006) sehen einen Zusammenhang zwischen dem vermehrten Aufkommen von Kosten-Nutzen-Analysen und Diskussionen über Ziele in der Psychotherapie. Für die Individualpsychologie bestehen als Zielvorstellung einer erfolgreichen Therapie neben dem Verschwinden der Symptomatik und der Verbesserung der unmittelbaren Konfliktverarbeitung strukturelle, dauerhafte Persönlichkeitsveränderungen (Dreikurs, 1980; Titze, 1979; zitiert nach Lehmkuhl u. Lehmkuhl, 2006).
Die gegenwärtige Sozialwelt hat nach Keupp (2005; zitiert nach Strauß u. Geyer, 2006, S.21) „wenig stabile Bezugspunkte für die individuelle Identitätsarbeit“. Damit korrespondierend rückt auch in der gesellschaftlichen Wahrnehmung von Psychotherapie die Beziehungsfunktion in den Hintergrund und wird ersetzt durch ein ExpertInnentum, das mehr oder weniger klar begrenzten Aufträgen folgt. Wie Presslich-Titscher (2011) am Kongress für Individualpsychologie formuliert, wollen viele PatientInnen als .Kinder ihrer Zeit. kurze, begrenzte Therapien, wollen „heilgemacht werden“, ohne etwas über ihr Inneres zu wissen. Gerade ein Sich-Einlassen, sowohl seitens des/der PatientIn als auch des/der TherapeutIn ermoeglicht jedoch eine solide therapeutische Allianz als Voraussetzung, um therapeutisch an der Veränderung der Persönlichkeit zu arbeiten.
Auch White (2011) zeigt in ihrem Vortrag am Kongress für Individualpsychologie am Beispiel von PatientInnen, die an einer fruehen Stoerung oder einer Borderlineerkrankung leiden, dass es unumgänglich ist, darauf zu achten, was in der Übertragung gelebt und ausagiert wird. Sie weist darauf hin, dass es in zeitlich begrenzten Therapien nicht möglich ist, über eine sichere Bindung Übertragungen zu ermöglichen, das heißt eine symbolische Kommunikation zu etablieren. Erst in einer Langzeittherapie wird es möglich, tiefere Ebenen der Persönlichkeit zu erreichen.
Psychoanalytisch arbeitende AutorInnen beziehen in den letzten Jahren gehäuft Stellung zum Thema der Therapiedauer. Mertens (1995, S. 420) sieht die Psychoanalyse mit ihrer langen Dauer als „Bollwerk gegen den Zeitgeist des schnellen Produzierens und Konsumierens und die übermäßige Betonung von Fortschritt, Effektivität und Effizienz“. In den Klagen der PatientInnen findet er den Ausdruck des Leidens einer ganzen Epoche, in der Menschen durch die Verinnerlichung des oben beschriebenen Umgangs mit der Zeit sich selbst abhanden gekommen sind. Er sieht einen wichtigen Beitrag des psychoanalytischen Vorgehens darin, dem Patienten/der Patientin Zeit zu lassen, zu sich zu kommen, sich von den verinnerlichten Über-Ich-Dressaten Schritt für Schritt zu lösen und die dabei entstehende Angst, ob man wirklich dazu berechtigt ist, im Beisein eines anderen Menschen einfach nur da zu sein, auf die eigenen Gefühle zu achten, zu überwinden. Das In-Berührung-Kommen mit sich selbst in einem längeren psychoanalytischen Dialog ist für ihn eine einzigartige Möglichkeit, sich selbst stärker in Besitz zu nehmen.
Heister (1997; zitiert nach Lehmkuhl u. Lehmkuhl, 2006) fordert eine Besinnung auf Regelmäßigkeit und Beginn der Behandlung mit offenem Ende als wesentliche Elemente der psychoanalytischen Methode. Besonders schwer kranke PatientInnen sind darauf angewiesen, dass der Therapeut/die Therapeutin den Rahmen der psychoanalytischen Situation verteidigt. Ziel einer Therapie kann nicht sein, Menschen optimal für Arbeitsabläufe einsetzbar zu machen, sondern sie zu einer Selbstverwirklichung kommen zu lassen (Bruns, 2007). Dies ist ein großer Schritt zur seelischen Gesundheit und gleichzeitig nicht messbar.
Ich denke mit Henseler und Wegener (1993), dass Psychoanalysen ihre je eigene Zeit benötigen und nicht willkürlich beschleunigt oder verkürzt werden können. Die Autoren beobachten in den von ihnen beschriebenen Langzeittherapien bis zur 300. Stunde Verbesserungen der Symptome und des Befindens ihrer PatientInnen und erst danach eine Verlagerung der pathogenen Problematik in die Beziehung zur Therapeutin/zum Therapeuten im Sinne einer Übertragungsneurose. Sie schließen daraus, dass PatientInnen mit einer Störung der Beziehung zum Primärobjekt Zeit brauchen, um genug Vertrauen zu finden, die entsprechenden Konflikte nicht nur im äußeren Leben, sondern auch in der Beziehung zur Therapeutin/zum Therapeuten zuzulassen. Diese frühen Störungen gehen mit einem großen Angstpotenzial einher, das durch ein vielschichtiges und beharrliches Abwehrsystem unter Kontrolle gehalten wird. In solchen Fällen hat die therapeutische Arbeit Vorleistungen zu erbringen, nämlich zu ermöglichen, dass Konflikte zugelassen, wahrgenommen und ausgehalten werden. Die Autoren postulieren, dass erzielte Veränderungen erst danach stabil bleiben.
PatientInnen mit einer frühen Störung verfügen nicht über die Fähigkeit, das eigene Verhalten oder das Verhalten anderer Menschen durch Zuschreibung mentaler Zustände zu interpretieren (Fonagy, 1991; zitiert nach Dornes 2009). Es fällt ihnen schwer, affektive und mentale Zustände von Aktivität zu unterscheiden und sie gleichzeitig als deren Verursacher anzuerkennen. Sie neigen dazu, jede vom Therapeuten / von der Therapeutin gezeigte Gefühlsregung prinzipiell auf sich selbst, nicht auf einen gemeinsamen Gesprächsgegenstand zu beziehen, wodurch sie von den Affekten direkt betroffen sind, was ihre Fähigkeit, darüber zu kommunizieren, einschränkt, und sie sehr verletzlich macht. Sie brauchen viele Beweise, dass sich die Motive des / der TherapeutIn von denen der frühen Bezugspersonen, die zu unverständlichen und traumatisierenden Handlungen geführt haben, unterscheiden. In einer Therapie werden sie möglicherweise in einer langen Anfangsphase den Therapeuten / die Therapeutin beobachten, um zu einer Einschätzung über seine / ihre Person zu kommen: wie sehr der / die TherapeutIn den Patienten / die Patientin anerkennen kann, ob überhaupt die Möglichkeit besteht, dass der / die TherapeutIn verstehen könnte, sodass ein bedeutsamer emotionaler Austausch entstehen kann. Im Sinne Winnicotts (1974/2006, S.189) muss der / die TherapeutIn immer wieder „gut genug“ sein, um sich den Affektausdrücken des / der PatientIn ausreichend anzupassen. Seine / ihre unspezifische Aktivität oder Empfindung kann er / sie mit dem Therapeuten / der Therapeutin verbinden und so eine auf seine Gefühle bezogene Symbolbildung erstmals generieren. In der Folge sind die PatientInnen den eigenen Affekten nicht mehr so unmittelbar ausgesetzt.
Die analytische Psychotherapie kann zu einer direkten Veränderung früh erlernter „Gefühlsgewohnheiten“ durch korrektive emotionale Erfahrungen ohne immer notwendigerweise begleitende Einsicht führen (Dornes, 2009). Die analytische Situation ermöglicht dem Patienten/der Patientin, implizit neue Beziehungs- und Gefühlsregeln zu erlernen, weil die Beziehung nicht so wie die früh erlebte, bedeutsame Beziehung, in der das sprach- und fantasiefreie Interaktionswissen erworben wurde, ist. Stellungnahmen des Therapeuten/der Therapeutin im Sinne averbaler Kommentare zu Äußerungen des Patienten/der Patientin verändern dessen/deren gewohnheitsmäßige Gefühlsregeln, ohne dass notwendigerweise der Prozess explizit gemacht werden muss. Soll die Veränderung im Denken und Fühlen von Emotionen dauerhaft etabliert werden, sind vielfach wiederholte Erfahrungen notwendig, um alte Prozesse zu modifizieren.
Abschließend frage ich mich angelehnt an Mertens (1995), wie weit sich eine durch (Langzeit-)Therapie veränderte Innensicht oder die neue Lebensqualität mit den herkömmlichen psychometrischen Verfahren in ihrer Bedeutung abbilden lassen. Solange Messbarkeit in dieser Form das Kriterium für die „erlaubte“ Dauer einer Therapie ist, wird der Platz für lange Therapien leider sehr eng.
Verwendete Literatur:
Bruns, G.J. (2007). Industrialisierungsprozesse in der Medizin und ihre Bedeutung für die Psychotherapie. (WWW Dokument). Verfügbar unter: www.Psychoanalyse-aktuell.de/politik/industrialisierungsprozesse.html (Datum des Zugriffs: 12.10.2011).
Dornes, M. (2009). Die frühe Kindheit. Entwicklungspsychologie der ersten Lebensjahre (9. Auflage). Frankfurt: Fischer Taschenbuch.
Fonagy, P. (2006). Bindungstheorie und Psychoanalyse (2. Auflage). Stuttgart: Klett-Cotta.
Fürstenau, P. (2006). Globalisierung und Ökonomisierung in der Psychotherapie – Eine Einführung. In: Strauß, B. & Geyer, M., Psychotherapie in Zeiten der Globalisierung (S. 25-27). Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.
Geißler, K. (2005). Die Zeiten ändern sich – mit Folgen. In: Lehmkuhl, U. (Hrsg.). Die Bedeutung der Zeit. Zeiterleben und Zeiterfahrung aus Sicht der Individualpsychologie (S. 13-30). Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.
Henseler, H., Wegener, P. (Hrsg.). (1993). Psychoanalysen, die ihre Zeit brauchen. Opladen: Westdeutscher Verlag.
Lehmkuhl, U., Lehmkuhl, G. (2006). Jedem Anfang folgt ein Ende – Dauer und Ziele individualpsychologischer Therapie. In: Diederichs, P. (Hrsg.), Die Beendigung von Psychoanalysen und Psychotherapien. Die Achillesferse der psychoanalytischen Behandlungstechnik? (Überarbeitete und erweiterte Ausgabe) (S. 55-68). Gießen: Psychosozial.
Mertens, W. (1995). Warum (manche) Psychoanalysen lange dauern (müssen). Gedanken zum angemessenen katamnestischen Vorgehen. In: Psyche, 49, 405-433. Stuttgart: Klett-Cotta.
Strauß, B., Geyer, M. (2006). Psychotherapie in Zeiten der Globalisierung. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.
Winnicott , D.W. (2006). Reifungsprozesse und fördernde Umwelt (Unveränderte Neuauflage). Gießen: Psychosozial.